Interview mit Sabine Canditt und Hedi Buchner über nachhaltiges Wirtschaften, Zukunftsfähigkeit und die Herausforderungen einer nachhaltigen Transformation.
Datum: 23. November 2023
Interviewer: Benjamin Wulff, www.wulff-pr.com, PR-Konzepte für Consultants
Frau Canditt, Frau Buchner, könnten Sie uns bitte Ihr Unternehmen und Ihre Rolle darin kurz vorstellen?
Hedi Buchner: Ich bin Gesellschafterin, Partnerin und Transformation Coach bei Improuv, einem agilen Beratungsunternehmen aus München, das seit 2011 besteht. Unsere Dienstleistungen umfassen Agiles Coaching, Transformationsbegleitung, Beratung und Training. Anfang 2023 haben wir improuv planet gegründet, eine improuv Marke mit Fokus auf Nachhaltigkeitsberatung mit agiler Vorgehensweise, also: Kleine Schritte, schnelles Feedback, Erfolge produzieren und einfach mal anfangen, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken vor diesem großen Berg an Aufgaben. Mein Schwerpunkt liegt derzeit auf dem Aufbau und der Entwicklung von improuv planet.
Sabine Canditt: Ich arbeite seit 4 Jahren bei Improuv und bin Gesellschafterin, agile Trainerin und Coach. Zuvor habe ich bei verschiedenen großen und kleinen Unternehmen gearbeitet, aber Improuv ist bisher das kleinste. Ich fühle mich sehr wohl hier, weil wir ein Unternehmen sind, das von der Mitbestimmung der Mitarbeitenden lebt. Es ist in Gesellschafterhand, fast alle Mitarbeitenden sind Gesellschafter:innen. Und das ist in unseren Augen auch ein Teil von Nachhaltigkeit, also die Frage, wie gehen wir mit den eigenen Mitarbeitenden um? Ich bin zertifizierte SCRUM-Trainerin und gebe aktuell viele Schulungen, wobei ich versuche, das Bewusstsein zum Thema Nachhaltigkeit bei den Menschen zu schärfen. Ich setze auch agile Methoden im Coaching ein, um Unternehmen bei der Erreichung ihrer nachhaltigen Ziele zu unterstützen.
Wie definieren Sie Nachhaltigkeit im Unternehmenskontext?
Sabine Canditt: Für uns ist das die Balance zwischen „People, Planet und Prosperity“. Wir legen gleichermaßen Wert auf diese drei Aspekte. Gelegentlich wird Nachhaltigkeit oft auf die Ebene des Altruismus reduziert – als ob es allein um Umweltschutz und zwischenmenschliche Freundlichkeit ginge. In Wirklichkeit ist Nachhaltigkeit jedoch auch in der Wirtschaft von großer Bedeutung, um die eigene Wertschöpfung als Grundlage für das Wohl der Mitarbeitenden zu nutzen – und den gesellschaftlichen Wohlstand zu fördern. Unser Ziel und unsere Verantwortung ist es, diese Balance herzustellen. Derzeit ist unsere Wirtschaft profitgetrieben: Unternehmen beuten die Ressourcen unseres Planeten übermäßig aus, was sowohl für den Planeten als auch für die Menschen nachteilig ist. Die Wichtigkeit einer Balance zwischen People, Planet und Prosperity wird besonders deutlich, wenn man sich die „Sustainable Development Goals“ (SDGs) der Vereinten Nationen ansieht, die in diese drei Kategorien eingeteilt sind.
Hedi Buchner: Letztlich geht es beim Thema Nachhaltigkeit auch um die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen. Wer in Zukunft noch erfolgreich wirtschaften möchte, muss nachhaltig oder gar regenerativ agieren. Nachhaltigkeit ist nicht verhandelbar! Wer dieser Verantwortung gerecht werden möchte, sollte sein Unternehmen so aufstellen, dass es auch in fünf Jahren noch profitabel ist und noch existieren kann. Und dann kommt kein Unternehmen am Thema Nachhaltigkeit vorbei.
Am 2. August 2023 war der „Earth Overshoot Day“ – also der Tag im Jahr, an dem die Menschheit bereits alle natürlichen Ressourcen für das Jahr aufgebraucht hat. Wie schätzen Sie die Bewusstseinslage von Unternehmen hinsichtlich der ökologischen Auswirkungen ihres Handelns ein?
Hedi Buchner: Da sehe ich Licht und Schatten in der deutschen Wirtschaft. Im Herbst 2023 nahm ich an einer zweitägigen Konferenz des Unternehmernetzwerks B.A.U.M. teil, das sich für nachhaltiges Wirtschaften engagiert. Dieses Netzwerk feiert 2024 sein 40-jähriges Bestehen. Das zeigt: Es gibt in vielen Unternehmen seit Jahrzehnten ein Bewusstsein dafür, dass wir Verantwortung tragen und aktiv etwas unternehmen müssen. Es gibt beeindruckende Beispiele von Unternehmen, die bereits sehr weit gegangen sind. Einige von ihnen betreiben regenerative Wirtschaft, was bedeutet, dass sie nicht nur nachhaltig handeln, sondern auch aktiv daran arbeiten, die ökologischen Bedingungen zu verbessern.
Auf der anderen Seite zeigt ein Blick auf die Unternehmenslandschaft, dass die Mehrheit der Unternehmen sich ihrer Verantwortung noch immer nicht bewusst ist oder sie bewusst ignoriert. Nach der Tagung, auf dem Heimweg im Zug, habe ich gelesen, dass die Wirtschaft heftigen Widerstand leistet, wenn die EU Maßnahmen zur Abfallreduzierung und Verpackungsmüllverringerung einführen möchte. Das steht im krassen Gegensatz zu den Eindrücken, die ich zuvor gesammelt habe.
Sabine Canditt: Am 22. November 2023 wurde der deutsche Zukunftspreis verliehen. Ein Preisträger war Siemens, die MRT-Geräte entwickelt haben, die auch in Regionen mit häufigen Stromausfällen funktionieren können. Ein weiteres ausgezeichnetes Unternehmen war Airbus, das ein Gerät entwickelt hat, mit dem CO2 aus der Luft entfernt werden kann. Dies ist ein regeneratives Verfahren, das jedoch grüne Energie erfordert, um effektiv zu arbeiten. Solche Technologien sind regenerativ ausgerichtet.
Siemens ist sich bewusst: Wenn alles so weitergeht, wie bisher, können sie ihr Geschäft nicht mehr lange betreiben, weil dem Planeten die Ressourcen für ihre elektronischen Produkte ausgehen. Und die einzige Möglichkeit, um sich nicht in eine Abhängigkeit von asiatischen oder afrikanischen Ländern zu begeben, besteht darin, diese Materialien aus den bestehenden Geräten zurückzugewinnen. Siemens hat diese Notwendigkeit erkannt und handelt entsprechend. Dies geschieht vor allem im Interesse der Geschäftskontinuität und nicht aus reinem Altruismus.
Andere Unternehmen werden durch europäische Vorschriften dazu gedrängt, Maßnahmen zu ergreifen. Diese Vorschriften werden von vielen als belastend empfunden, da sie komplex und ständigen Veränderungen unterworfen sind. Das macht es schwierig für die Mitarbeiter:innen in Unternehmen, sich darauf einzustellen.
Die EU-Regulierungsbehörden haben in den letzten Jahren eine Reihe von ESG-Initiativen eingeführt. Wie bewerten Sie die Glaubwürdigkeit und Effektivität von Unternehmen bei der Einhaltung dieser Standards?
Sabine Canditt: Es ist nicht immer leicht, die Glaubwürdigkeit von Unternehmen in Bezug auf Nachhaltigkeit einzuschätzen. Ein Beispiel für hohe Glaubwürdigkeit ist das Unternehmen Vaude, das seit vielen Jahren Nachhaltigkeitsberichte veröffentlicht und für nachhaltiges Wirtschaften steht. Die Gründerin ist stark im Bereich Nachhaltigkeit engagiert und wird öffentlich für ihre Bemühungen ausgezeichnet. Ihre Authentizität ist erkennbar. Bei anderen Unternehmen ist die Lage nicht immer so klar. Nehmen wir zum Beispiel den Nachhaltigkeitsbericht der Allianz: Der Inhalt klingt lobenswert. Wenn das Unternehmen tatsächlich alles umsetzt, was darin steht, wäre das großartig. Allerdings fehlt oftmals die Transparenz, was die Überprüfung und Beurteilung erschweren. Greenwashing unterstellen wir solchen Unternehmen aber keinesfalls, das wäre unfair.
Das Problem ist nur: Viele Menschen in der Belegschaft spüren nichts von dem, was in diesen Berichten steht. Es gibt Abteilungen, die Nachhaltigkeitsberichte verfassen. Aber wenn wir die Teams befragen, erfahren wir oftmals, dass diese Informationen nicht bei ihnen ankommen.
In unseren Augen besteht hier jedoch viel mehr Potenzial: Eine Transformation oder Partnerschaften können einiges bewirken. Wenn solche Initiativen entstehen und alle Mitarbeitenden eingebunden werden, gibt es ein enormes Potenzial für nachhaltige Veränderungen.
Hedi Buchner: Als erster Schritt ist es wichtig, den aktuellen Status quo zu erfassen. Dies bietet eine Grundlage und Daten, um Vergleiche mit anderen Unternehmen zu ziehen – und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu verstehen. Nachhaltigkeitsberichte helfen aber nicht nur bei der Datensammlung, sondern auch bei der Analyse der wesentlichen Faktoren und der Einbindung der Stakeholder. Dies eröffnet die Möglichkeit, über den eigenen Horizont hinauszublicken und die Umwelt einzubeziehen. Daher halten wir Berichterstattung für einen sinnvollen ersten Schritt. Der zweite Schritt muss dann aber folgen: Die Umsetzung konkreter Maßnahmen, wie die Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle, Prozesse oder Produkte. Es geht darum, die Erkenntnisse aus dem Nachhaltigkeitsbericht zu nutzen und eine Transformation in Gang zu setzen.
In Ihrer Arbeit verbinden Sie Agilität mit Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Könnten Sie erläutern, wie diese Verbindung aussieht und welche Vorteile sie für Unternehmen bietet?
Hedi Buchner: Kleine Schritte sind eine Möglichkeit, den scheinbar großen Berg an Aufgaben zu bewältigen und aktiv zu werden. Eine agile Vorgehensweise zeigt, dass auch kleinere Unternehmen einen Beitrag leisten können. Es ermöglicht, Potenziale zu entfalten. Agilität und agile Prinzipien bedeuten, die Mitarbeitenden einzubeziehen und einen Transformationsprozess im Unternehmen zu starten, bei dem die Belegschaft mitgenommen wird. Dies gelingt nur, wenn es von der Unternehmensführung vorangetrieben und unterstützt wird – und es funktioniert am besten, wenn alle Mitarbeitenden sich engagieren.
Sabine Canditt: Die Digitalisierung stellt viele Unternehmen bereits heute vor große Herausforderungen. Wenn ein Unternehmen eine digitale Transformation durchläuft, macht es wenig Sinn, eine separate nachhaltige Transformation anzustreben. Die Menschen werden auch veränderungsmüde. Sinnvoller ist es, während einer umfassenden Transformation von Anfang an das Thema Nachhaltigkeit zu berücksichtigen und zum integralen Bestandteil des Veränderungsprozesses zu machen.
Inwiefern kann die Digitalisierung dazu beitragen, Nachhaltigkeit in Unternehmen zu fördern? Können Sie Beispiele für erfolgreiche Anwendungen nennen?
Hedi Buchner: Hier sind zwei Beispiele: Auf der zuvor erwähnten B.A.U.M.-Tagung wurde ein Preis für herausragende Unternehmer:innen verliehen. Eine der Preisträgerinnen war die Chief Digital Officer von Enpal, einem Unternehmen, das Solarenergie äußerst digitalisiert anbietet. Enpal kann Solarenergie und die dazugehörige Infrastruktur effizient beim Kunden vor Ort installieren. Sie nutzen die Digitalisierung, um ein dezentrales Stromnetz in Deutschland aufzubauen und planen dies langfristig auch für Europa.
Ein weiteres Beispiel ist P.A.C., ein Hersteller von Strickwaren aus Schweinfurt. Ein junger Unternehmer hat mit nur 23 Jahren eine hoch digitalisierte Fabrik errichtet, die als erste Green Factory für Strickwaren in Schweinfurt dient. Die Digitalisierung ermöglicht es ihnen, wettbewerbsfähig zu bleiben, Waren in Deutschland herzustellen – und ihr Geschäft vor Ort aufrechtzuerhalten. Beides inspirierende Beispiele für nachhaltiges Wirtschaften.
Sabine Canditt: Digitalisierung ermöglicht bspw. Produktpässe für die Kreislaufwirtschaft, die Informationen über Materialien in Produkten liefern, die wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden können. Digitale Sharing-Plattformen ermöglichen das Teilen von Autos, Waschmaschinen und sogar Schuhen, was die Kreislaufwirtschaft fördert.
Wie begleiten Sie Unternehmen bei der Entwicklung von Strategien für digitale Suffizienz, Reparierbarkeit oder Kreislaufwirtschaft?
Sabine Canditt: Ein effektiver Einstieg in Nachhaltigkeit kann über die Betrachtung der Sustainable Development Goals der UN erfolgen, bei denen die Auswahl der für das Unternehmen wichtigsten Ziele im Vordergrund steht. Das Identifizieren der fünf wichtigsten Ziele, zu denen das Unternehmen beitragen möchte, bietet einen guten Ausgangspunkt. Alternativ können die Verantwortlichen über den Unternehmenszweck (Purpose) nachdenken – und sich fragen, welchen Beitrag sie zum Gesamtsystem leisten möchten, jenseits von rein wirtschaftlichen Zielen.
Kommen die Unternehmen direkt mit dem Thema Nachhaltigkeit auf Sie zu?
Sabine Canditt: Wir beginnen gerade, das Thema durch Angebote wie Führungskräftetrainings zu integrieren, da Nachhaltigkeit auch viel mit Führung zu tun hat. Wir bringen es durch unser Coaching und Training in den Fokus. Personen, die an unseren Schulungen teilnehmen, werden immer wieder mit dem Thema Nachhaltigkeit konfrontiert. Unser Ansatzpunkt besteht darin, sie dort abzuholen, wo sie stehen – und sie zu ermutigen, aktiv über Nachhaltigkeit nachzudenken.
Hedi Buchner: Ich verfolge einen ähnlichen Ansatz, indem ich das Thema Nachhaltigkeit in meine Kundenarbeit einbeziehe. Schließlich handelt es sich dabei auch um Risikomanagement. Jedes Unternehmen muss dieses Thema im Hinblick auf seine Zukunftsfähigkeit berücksichtigen. Ein Ziel der agilen Transformation ist es, zukunftsfähig zu bleiben und flexibler auf Marktentwicklungen reagieren zu können – sei es im Hinblick auf Ressourcenknappheit oder Umweltkatastrophen, die bereits viele Unternehmen betreffen und in Zukunft noch stärker betreffen werden. Als Gesellschafterinnen von Improuv sehen wir uns auch als Unternehmerinnen und betrachten dies als unseren Beitrag, dieser Verantwortung gerecht zu werden