Ich habe Dr. Marcus Hildebrandt www.marcushildebrandt.de und Jan Markus Kristen www.markuskristen.de als Organisatoren des Agile Culture Camp [6. Agile Culture Camp. Fire. Act. Future. – Agile Culture Camp] kennengelernt, in dem Berater:innen und Coaches sich zu Nachhaltigkeitsthemen austauschen. Beide kommen aus der Organisations- und Führungskräfteentwicklung und bringen Einblicke mit, von denen wir Agilist:innen einiges lernen können:
- Nachhaltigkeit ist der Megatrend für Beratung und Coaching in den nächsten Jahren.
- Paradigmenwechsel für Berater:innen und Coaches: nicht nur auf den Prozess schauen, sondern auch Inhalte einbringen.
- Every job is a climate job. Es gibt immer eine Gelegenheit, Nachhaltigkeit in ein Kundengespräch einzubringen.
- Glaubwürdigkeit beginnt bei der eigenen Nachhaltigkeits-Transformation.
- Wir brauchen kein fundiertes Expertenwissen für Nachhaltigkeit, sondern ein Kompetenz-Netzwerk.
- Umgang mit Komplexität ist eine Kernkompetenz für Nachhaltigkeit.
Unser Gespräch fand am Vortag des russischen Angriffs auf die Ukraine statt. Ich möchte es daher ergänzen um einen Gedanken von Marcus aus einem Post: Ich bin tief davon überzeugt, dass das, was wir aktuell bei der Nachhaltigkeit-Transformation vorantreiben, Friedensarbeit ist: weg vom fossilen Denken hin zu demokratiestärkender Nachhaltigkeit.
Und hier die Zusammenfassung unseres Gesprächs:
Sabine: Meine These ist, dass wir Agilist:innen unser Potenzial, das wir zur Bewältigung von Nachhaltigkeitsproblemen haben, nicht ausschöpfen. Wie seht ihr das?
Jan Markus: Ich habe parallel Erfahrung in der systemische Organisationsentwicklung und -beratung. Ich habe bei einem großen renommierten Ausbilder das Thema über anderthalb Jahre lang immer wieder geteasert und in kleine Veranstaltungen reingebracht. Es gibt eine Handvoll Interessierte, aber es wird noch nicht erkannt, dass das nicht nur ein Megatrend ist für alle, die trainieren, beraten, coachen, sondern dass es einfach ein Erfordernis ist. European Green Deal, bis 2045 klimaneutral werden in Deutschland, Klimaschutzgesetz – die Transformation steht schon längst in den Gesetzen, aber es kommt erstaunlicherweise noch nicht richtig an in den Berater-Ausbildungen. Auch in der agilen Ausbildung habe ich das Thema nirgendwo gefunden. Ich bin erstaunt über diese Trägheit gegenüber diesem Megatrend. Was ist mit der agilen Community los? Die ist mit ihrer Kompetenz, die Haltung in den Mittelpunkt zu stellen, absolut qualifiziert. Jetzt gerade erlebe ich viele Kunden, die in Hektik sind wegen der europäischen Corporate Sustainability Reporting Direktive. Aktuell sind 400 Unternehmen berichtspflichtig, und in Zukunft werden es 15.000 sein. Gerade da müssen wir ein agiles Vorgehen haben. Wir müssen zwar einige Implementierungen projektmäßig durchplanen, aber viel ist Trial and Error, wo wir in Experimenten, in Prototypen vorgehen und schnell in Lernschleifen kommen müssen. Da sehe ich die Stärke von agilen Vorgehensweisen.
Markus: Ich habe selbst Leute zu Organisationsentwicklern ausgebildet. Es gibt dort, wie auch bei den Agilist:innen, ein Dogma: wir übernehmen die Verantwortung für den Prozess, aber nicht für Lösungen und Inhalte. Eine Hidden Agenda ist No go für Prozessentwickler:innen oder -begleiter:innen. Jetzt geht es aber um nichts weniger als “die Welt zu retten”. Da kann man nicht mehr themenneutral einsteigen. Wir müssen mental einen Paradigmenwechsel vollziehen und uns in Richtung Komplementärberatung [Roswita Königswieser, Ebrû Sonuç, et al., Komplementärberatung] bewegen, inhaltliche Impulse setzen mit einer expliziten Agenda, das Unternehmen in Richtung Klimaneutralität oder Regenerative Leadership zu entwickeln. Das ist neu, und daran müssen sich die Leute sich erst mal gewöhnen.
Sabine: Wie seid ihr dazu gekommen, euch mit eurem Hintergrund als Organisationsentwickler mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen?
Jan Markus: Es gab nicht diesen einen Big Bang, sondern ein Erweckungserlebnis nach dem anderen. Eines davon war für mich ein Training, das ich für Führungskräfte in einem Unternehmen gegeben habe. Dieses Unternehmen hat eine sehr dezidierte und ambitionierte Nachhaltigkeitsstrategie und auch einen entsprechenden guten Nachhaltigkeitsbericht. Aber nur eine von zehn Führungskräften kannte diese Dinge, und nur wenige hatten irgendeine Idee, wie sie zu Nachhaltigkeit im Unternehmen beitragen können.
Außerdem gab es bei mir eine starke private Motivation. Meine Kinder sind jetzt 15 und 20 und aktiv bei Fridays for Future. Die haben mich zu Hause am Abendbrottisch gechallenged und gefragt: „Papa, was machst du eigentlich? Du bist doch in der Wirtschaft. Wieso trägst du nicht dazu bei, dass sich die DAX-Konzerne verändern, die mit ihrem jetzigen CO2-Ausstoß zu einer 5-Grad-Erwärmung führen würden?“ Da wollte ich Positionen beziehen und meine eigene Transformation angehen. Wie Obama gesagt hat: „Wir sind die ersten, die die Auswirkungen spüren werden und die letzten, die daran noch drehen können.“
Markus: Ich habe als Physiker schon 1986 an einer multidisziplinären Tagung zum Klimawandel teilgenommen. Da haben wir alle Daten, Zahlen und Fakten, die damals schon bekannt waren, kennengelernt. Das heißt, ich habe es Wissen schon ein halbes Leben lang gehabt, aber die emotionale Akzeptanz kam erst über Greta und Fridays for Future und meine eigenen Kinder. Das hat mich plötzlich sehr emotional berührt. Wie bei Jan Markus haben auch meine Kinder gesagt: „Hey, ihr habt den Karren in den Sand gesetzt, eure Wirtschaftswunder.-Generation. Ihr habt uns ein Stück weit die Zukunft versaut.“ Ich bin sehr viel geflogen in meinem Leben, weltweit unterwegs gewesen. Wie kann ich diesen Schaden wiedergutmachen? Wie kann ich jetzt meine Kräfte, meine Kompetenz, meine Netzwerke global einsetzen, dass ich noch in den Spiegel gucken kann? So dass ich sagen kann: ich habe, wenn auch verspätet, alles getan, was in meinen Kräften stand, um eine enkeltaugliche Zukunft zu entwickeln.
Sabine: Wie seid ihr es angegangen, mit diesen Gedanken an Kunden heranzutreten?
Jan Markus: Mein erster Schritt war, in meinen eigenen Transformationsprozess einzutreten: Ich habe auf meine eigene Geschäftstätigkeit und meinen CO2-Footprint geguckt, mit dem Dreiklang messen, reduzieren, kompensieren. Ich habe dann Maßnahmenpläne für mich festgelegt. Zum Beispiel habe ich Aufträge im Ausland oder im Süden von Deutschland nicht verlängert, sondern Neukundenakquise gemacht mit der Prämisse, dass ich entweder virtuell mit ihnen arbeite oder sie im Bahn-Radius von 2,5 Stunden sind. Das habe ich auf meiner Webseite kenntlich gemacht. Mir war außerdem klar, dass ich noch mehr Wissen brauchte. Ich wollte mich tiefer mit dem Thema beschäftigen, es nicht nur in mein bestehendes Angebot integrieren, sondern in die Nachhaltigkeitstransformation reingehen mit Coaching, Beratung und Training. Bei der Suche nach einem Ausbildungsinstitut habe ich das Terra Institut in Südtirol gefunden [Welcome to Terra Institute – Terra Institute (terra-institute.eu)]. Dort gibt es ein Verständnis dafür, dass wir nicht nur inkrementelle Veränderung brauchen, sondern einen System Change in Haltung und Ausrichtung. Ich habe mich für deren einjährige Ausbildung entschieden, bin jetzt akkreditiert als Terra Certified Partner damit dichter angedockt an die Community dort. Ich nehme an gemeinsam Aufträgen teil oder akquiriere selber in Terra-Namen.
Marcus: Ich denke prinzipiell in Netzwerken. Bei mir ging es deshalb erst einmal darum, meine eigenen Hausaufgaben zu machen. Deswegen war mein erster Schritt der Versuch, über das Agile Manifest inspiriert, eine Green Consultants Community zu gründen [Start – Green Consultants Community], eine Selbsthilfegruppe für Berater:innen, Moderator:innen, Coaches, die ihre eigenen Dienstleistungen klimafreundlich und nachhaltig anbieten wollen. Gerade als Berater:innen haben wir eine Vorbildfunktion: erst mal die eigene Glaubwürdigkeit herzustellen, bevor wir zum Kunden gehen. Im zweiten Schritt habe ich dann auch die Ausbildung beim Terra-Institut gemacht. Bei mir war der entscheidende Punkt nicht die Inhalte waren, sondern die Frage: Wer macht die Weiterbildung dort? Kann ich darüber mein Netzwerk erweitern? Sind das Menschen, die einen ähnlichen Mindset und ähnliche Werte haben wie ich? Community-Entwicklung ist eine meiner großen Stärken, deswegen habe ich diesen Aspekt in den Vordergrund gestellt. Über diese Ausbildung habe ich mein eigenes Netzwerk aufgebaut und das große Glück gehabt, Jan Markus kennenzulernen und andere. Ich verfolge nach wie vor die Strategie eines Kompetenz-Netzwerks, weil ich in kurzer Zeit gar nicht zum Experten in allen relevanten Themen werden kann. Aber ich brauche natürlich Fachwissen, um zumindest First Level Support zu sein. Das heißt, wenn eine Kund:in eine Frage hat, kann ich sie einordnen und entsprechend meiner Kompetenzen als ausgebildeter Nachhaltigkeitsberater selber bearbeiten oder aus meinem Netzwerk jemanden finden, der sie professionell beantworten kann.
Jetzt geht es darum, meine Produktpalette zu überarbeiten und neue, eigene Produkte auf den Markt zu bringen in den Bereichen, in denen ich seit vielen Jahren unterwegs bin. Ich habe für mich die Großindustrie als zentralen Hebel entschieden. Mit meinem Prozessbegleitungs-Hintergrund habe ich bisher Kund:innen so gut wie nie Themen vorgeschlagen. Jetzt bringe ich in allen Gesprächen das Thema Nachhaltigkeit ein, wenn ich irgendeine Chance sehe. Das hat mir auch geholfen, in kurzer Zeit sehr klar zu diesen Themen zu werden.
Und ich bekomme Resonanz. Bei einem Unternehmen in der Automobilbranche, für das wir ein Training machen zum Thema virtuelle Zusammenarbeit und The New Normal, habe ich ganz vorsichtig gefragt, ob es okay wäre, wenn ich eine Folie mit reinnehmen würde zum Thema Nachhaltigkeit. Mein Gegenüber bekam große Augen und sagte: „Toll, Marcus, dass du das mal anspricht. Du sprichst mir aus dem Herzen, aber ich habe mich das noch nie getraut.“
In unseren Gesprächen mit Kunden geht es um die äußeren Faktoren, die in Richtung Nachhaltigkeit zwingen und drängen, aber auch innere Faktoren: Was sind unsere inneren Werte? Was heißt eigentlich Verbundenheit mit der Natur? Und es geht darum, Wirtschaftssysteme und Strukturen zu verstehen. Was sind Alternativen zu den klassischen Paradigmen aus dem Wirtschaftskontext? Also Donut-Ökonomie [Donut-Ökonomie – Wikipedia] oder Gemeinwohl-Ökonomie. Das sind die Eckpfeiler: externe Faktoren, innere Haltung, und Wirtschaftssysteme. Wir müssen positive Narrative in der Hand haben. Das hat was mit dem Change Management zu tun, das wir gerade grundlegend überarbeiten. Das klassischen Change Management weist Lücken auf, wenn es um Verhaltenswandel geht. Es reicht nicht Betroffene zu Beteiligten zu machen. Man muss sehr viel tiefer in die Psychologie der Menschen einsteigen.
Jan Markus: Ich habe eine diversifizierte Akquise-Strategie. Ich war auf LinkedIn sehr aktiv, habe meinen Profiltext umgestellt und Artikel geschrieben und zu Lunch-Veranstaltung eingeladen, mit einer guten Teilnahme zwischen sechs und 60 Leuten. Ich habe meine Homepage umgestellt und meine Vision dort abgebildet, auch wenn ich noch am Anfang war. Zusätzlich solche Aktivitäten wie eine Keynote auf der Tagung der International Coaching Federation oder ein Vortrag bei einer Tagung vom Lions Club.
Aus dem Netzwerk, das dadurch entsteht, kommen jetzt die ersten Anfragen. Ich habe jetzt Aufträge, an denen ich gemeinsam mit dem Terra-Institut und meinem Netzwerk arbeite. Dieser Prozess hat zwei Jahre gedauert. Das hätte auch schneller gehen können, aber es war ja ein eigener Lernprozess. Es geht darum, seine Haltung zu verändern und sich zu entwickeln.
Sabine: Welches Wissen sollte man mitbringen, damit man von Kunden ernst genommen wird und mit ihnen ins Gespräch kommt?
Marcus: Für mich war ein Entscheidungskriterium, neue Aufträge nur von Firmen anzunehmen, die in meine Nachhaltigkeitsstrategie passen: Ich versuche die ganze Energietransformations-Wertschöpfungskette in meinem Portfolio zu haben. Für mich ist es wichtig, Fachexpertise auf der Kundenseite zu haben, weil ich verstehen möchte: Welche Fragen müssen Hochspannungsübertragungsysteme in Sachen Nachhaltigkeit beantworten? Was muss das Niederspannungsnetz in einer Stadt und der Energieversorger im Bereich Nachhaltigkeit für Fragen beantworten? Auch wenn ich noch nicht die großen Antworten auf deren Fragen habe: wer die Fragen und den Kontext nicht kennt, kann sein Fachwissen nicht einbringen. Es ist ein prinzipielles Kriterium für die komplementäre Beratung, dass ich den Kundenkontext verstehen und darin eingebettet sein muss entlang der gesamten Wertschöpfungskette, nicht nur in ein individuelles Unternehmen. Das Denken in Wertschöpfungsketten und die Sicht auf eine Organisation als Ökosystem war eine weitere Veränderung für mich.
Jan Markus: Es gibt häufig diese Blockade: ich muss erst noch mehr wissen, damit ich anfangen kann. Dabei ist Wissen genug da. Es geht nicht darum, Expert:in für eine neue Legislative zu werden, sondern es geht darum, das Thema zu unterstützen, so dass es überhaupt bearbeitet wird. Es macht Spaß, die Ecken, wo man einsteigen kann, selber zu entdecken. Every job is a climate job. Sobald man anfängt, sich für das Thema zu interessieren, baut man Wissen auf. Wenn ich auf Fragen stoße, für die es mehr Wissen braucht, hole ich mir Unterstützung.
Sabine: Was ist eure Botschaft an die agile Community?
Marcus: Im Manifest für Agile Software Development findet man grundlegende Antworten, wenn man es nachhaltig interpretiert: Menschen und Interaktionen in den Vordergrund setzen, auf Änderungen reagieren, in den Dialog mit dem Kunden gehen in Richtung Nachhaltigkeit, ins Handeln kommen. Es ist alles da, man muss es nur machen. Was mir sehr geholfen hat: ein lokales Nachhaltigkeitsprojekt zu unterstützen, zum Beispiel Citizen Forest. Da sieht man sofort Erfolge. Tagtägliche inkrementelle Disruptionen, die den Paradigmenwechsel einleiten.
Jan Markus: Am Anfang steht eine Entscheidung: Agilists decide to be the heroes of climate change. Ich glaube, dass in drei, vier Jahren das Thema Nachhaltigkeitstransformation das nächste große Thema sein wird, so wie jetzt agile Transformation. Es ist schlau und wichtig für die eigene finanzielle Nachhaltigkeit, auf dieses Thema zu setzen. Agilist:innen sind Complexity Worker, und das ist das wesentliche Skillset für Nachhaltigkeitstransformation. Als kleinen Tipp habe ich noch die App Klimakompass [Der klimakompass | worldwatchers – Sustainability made easy]. Da gibt es Challenges und es macht einfach Spaß, sich so mit diesem Thema sich auseinander zu setzen.
Sabine: Ich bin euch sehr dankbar für dieses tolle Gespräch. Ich habe viel gelernt von euch und eurem Blick aus einer anderen Richtung.
Marcus: Ich kann nur sagen: schreib schnell, Sabine, dein Buch wird gebraucht.